Ist es noch weit?

Die Zeitangaben für Wanderungen werden in jedem Land unterschiedlich berechnet. Mit der Realität stimmen sie nirgends überein.

 

 

Dass die Schweizer in allem etwas langsam sind, ist sicher nur ein gehässiges Klischee. Dass sie heute langsamer wandern als früher, das ist amtlich festgelegt. 4,2 Kilometer pro Stunde schaffen sie zu Fuß. So zumindest lautet seit 2006 der Richtwert, auf dessen Grundlage die Stunden- und Minutenangaben auf den 50 000 gelben Wegweisern an den Schweizer Wanderpfaden errechnet werden. Noch in den Siebzigerjahren schritten die Eidgenossen offenbar etwas zügiger aus: Auf 4,5 Kilometer pro Stunde taxierten sie seinerzeit ihre offizielle Durchschnittsgeschwindigkeit.

Doch die Rechnung hat einen Haken: Sie gilt nur in der Ebene, und in der Schweiz gibt es kaum plattes Land. Die Höhen und Tiefen der alpinen Topografie stellen die Marschzeitkalkulatoren seit eh und je vor große Probleme. „Früher wurden gewisse Strecken schlicht abgelaufen“, sagt Andreas Wipf vom Dachverband „Schweizer Wanderwege“. Diese Institution berät die kantonalen Vereine, die das 60 000 Kilometer lange Wegenetz in der Schweiz betreuen. Seinerzeit waren es laut Wipf vor allem die „technisch schwierigeren“ Etappen, die sich dem Stoppuhr-Test unterziehen mussten. Wege also, die sich durch reichliches Auf und Ab auszeichneten. In einer Empfehlung der „Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Wanderwege“ aus dem Jahr 1941 heißt es, die benötigte Zeit sei festzustellen durch „Abschreiten des Weges mit einem normalen Wanderschritt von Personen verschiedener Marschtüchtigkeit (Erwachsene und Kinder)“.

Die Zeitvorgaben im Wallis oder in Graubünden halten viele Wanderer für „unmenschlich“

Schon damals dürfte mancher Normal-Bergwanderer vermutet haben, dass nur überdurchschnittlich trainierte Alpinisten in diesen Messtrupps zum Einsatz kamen. Anders ist es ja kaum zu erklären, dass man in einigen Regionen sein Ziel niemals in der angegebenen Zeit erreicht, sondern – trotz aller Fitness – den Vorgaben immer hinterherläuft. Als „unmenschlich“ gelten bis heute manchen Berggehern die Zeitvorgaben im Wallis oder in Graubünden, während den Bernern eher eine gewisse Gemächlichkeit nachgesagt wird.

„Das sind nur gefühlte Unterschiede“, beteuert aber der Geograf Wipf. Denn die Abschreitmethode ist schon längst durch objektivere Maßstäbe ersetzt. Schon in ihrer Richtlinie von 1941 empfahl die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Wanderwege neben der empirischen Methode durch Ablaufen noch zwei weitere Varianten, mit denen sich die Marschzeit ermitteln ließ. Und zwar zum einen mit einer einfachen Berechnung. Allerdings floss dabei die Steilheit von Wegen im Gebirge – also der wichtigste Faktor, der einen Wanderer schnell oder langsam macht – nur grob ein.

Steigungen und Gefälle bis vier Prozent blieben unberücksichtigt; dort verwendete man damals zeitweise den gemächlichen Richtwert von 4,2 Kilometern pro Stunde. Lag die durchschnittliche Steilheit zwischen vier und 20 Prozent, gab es einen Aufschlag von einer Minute pro zehn Höhenmeter, dafür wurden in der Strecke sportliche sechs Kilometer pro Stunde verlangt. Ging die Steigung über 20 Prozent, wurden pro zehn Höhenmeter gnädig fast zwei Minuten mehr kalkuliert.

Die zweite Variante war etwas gründlicher und wohl auch weiter verbreitet: Man konnte die Gehzeiten für die einzelnen An- und Abstiegsetappen aus einem offiziellen Diagramm herauslesen, das zwischen den empirischen Messungen interpolierte (Grafik unterer Teil). Basis war ein Grundtempo von 4,5 Kilometern pro Stunde. Mit einer festen Entfernung auf der x-Achse und der Höhendifferenz im Aufstieg oder Abstieg auf der y-Achse landet man in diesem Diagramm auf einer Kurve, die die Marschzeit angibt.

Doch auch dieses Verfahren war den Schweizern zu ungenau. Schon vor Jahrzehnten wurde deshalb eine Formel entwickelt, welche die Berechnung erheblich verbessert. Gerhard Weber – Ex-Mitarbeiter beim Bundesamt für Landestopografie – hat sich in den 1980er-Jahren 162 Bergstrecken in mühevoller Kleinarbeit aus der Landeskarte herausgesucht. Diese wiesen jeweils unterschiedliche, aber konstante Steigungen auf. Eine nach der anderen ist Weber dann abmarschiert, wieder mit der Stoppuhr in der Hand.

Die Zeitmessungen der Teststrecken notierte er penibel. Webers Sohn Stephan – ein EDV-Freak – entwickelte auf dieser Grundlage ein Polynom 15. Grades, das sich leicht per Computer berechnen ließ und fortan für jeden Streckenabschnitt standardisierte Marschzeiten lieferte (Grafik oberer Teil). Mit den 16 darin enthaltenen Konstanten lassen sich allerdings nur Steigungen und Gefälle bis 40 Prozent korrekt abbilden. Geht es steiler bergauf oder bergab, so muss linear extrapoliert werden. Seit etwa zehn Jahren ist diese Berechnungsmethode in der ganzen Schweiz fest etabliert; ältere Wegweiser mit anders berechneten Zeitangaben dürfte es kaum noch geben.

Quelle: Süddeutsche Zeitung, Folkert Lenz

Von Gery

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